Ich nehme den Bus aus dem verregneten Santiago nach Fisterra, da ich mit meinem rechten Bein vorläufig keine längeren Strecken laufen will. Die zwei Kilometer vom Hotel zum Busbahnhof in Santiago und das gleiche noch einmal in Fisterra bis zu meinem Airbnb Apartment sind mehr als genug. Obwohl nur 82 km, braucht der Bus drei Stunden, weil er erst einmal schnurstracks an die Küste nach Noia fährt. Eigentlich ist das ja noch gar nicht die Küste, sondern der Ría de Muros e Noia, eine fjordähnliche Flussmündung des Río Tambre in den Atlantik. Danach geht es nach Norden immer an der Küste entlang und an jedem Dorf steigen Leute ein und aus. Bei schönem Wetter wäre das sicher eine interessante Fahrt. Aber bei strömendem Regen, Nebel und wasserüberströmtem Seitenscheiben sieht man nur graue Schemen vorbei huschen. Der Name Fisterra ist galicisch, spanisch heißt es Finisterre, weil die Menschen früher annahmen, dies sei das Ende der Welt, zumindest im Westen. Man sieht halt nur noch den offenen Atlantik. Auch hier ist das Wetter erstmal nicht besser. Erster Eindruck: Sehr maritim und glücklicherweise nicht sehr touristisch. Am zweiten Tag wechselt das Wetter allein tagsüber dreimal zwischen Sonnenschein mit blauem Himmel, Nebel mit drei Meter Sicht und Regen. Das Wochenende naht und das Wetter klart auf.
Das hebt die Laune, nachdem gestern Abend in meinem Apartment ein Waschdesaster passiert ist. Ich hatte Waschtag und alles lief perfekt. Die Maschine spulte ihr Programm leise durch, so dass ich mich an mein Laptop zum Schreiben zurückzog und mich vom Fernseher berieseln ließ. Nach etwa einer Stunde wollte ich mir aus der Küche etwas zu trinken holen, wobei ich beim Aufstehen bemerkte, das ich im Wasser stand. Mein Adrenalinspiegel schoss sekundenweise auf Maximalniveau. Der Fußboden nahezu des gesamten Apartments war bedeckt mit warmem Waschwasser. Den Rest brauche ich nicht zu erzählen. Der Abend war gelaufen. Zumindest war meine Wäsche fertig gewaschen, nicht nur der Fußboden. Der Samstag verläuft ruhiger. Mit meinem Daypack mache ich mich auf ins Dorfzentrum, etwa 2 km. Den Spaziergang entlang der Küste bis zur Albergue Fin da Terra e do Camiño am südlichen Ende des Dorfes verbinde ich mit einem Einkauf fürs Wochenende. Das schöne Wetter am Sonntag nutze ich für die nun wirklich allerletzte Etappe des Jakobsweges, da das Kap Finisterre als das eigentliche Ende des Jakobswegs angesehen wird. So machen sich die meisten Jakobspilger von Santiago de Compostela noch einmal auf zum Cabo Fisterra. Manche führen noch das Jakobspilgerritual durch und verbrennen am Kap einen Teil ihrer Sachen. Obwohl ich dieses Ritual nicht ausführe, spüre ich den genius loci, die Magie des südlichsten Ortes der galicischen Costa da Morte (spanisch: Costa de la Muerte), der Küste des Todes, die schon vielen Seefahrern das Leben gekostet hat. Es ist auch heute noch eine gefährliche Küste. Das letzte große Unglück war die Havarie des Tankers „Prestige“ im Jahre 2002, deren Ölteppiche nach wie vor das Ökosystem der Küste beeinträchtigen. Bei klarer Sicht sind das Licht und die Farben überwältigend. Die steilen, felsigen Abgründe am Kap täuschen auf den Fotos Harmlosigkeit vor. Sie sind aber so steil und holprig, dass es verwundert, nicht von hunderten von tödlichen Abstürzen der jährlich mehreren Hunderttausend Jakobspilger zu hören; denn nichts ist abgesperrt oder irgendwie gesichert. Ohne Vorsicht und Vernunft ist es hier lebensgefährlich, aber eben auch magisch!