Irgendwie hatte ich ein merkwürdig heimisches Gefühl, als ich nach fast einem Jahr zum zweiten Mal in Ushuaia ankam. Mit gefällt es einfach hier. Die Stadt ist sehr lebendig und obwohl sie wesentlich vom Tourismus geprägt ist, sind die Menschen doch freundlich und offen. Vielleicht liegt es auch daran, dass Ushuaia das Tor zur Antarktis ist und der Tourismus dort von anderen Menschen geprägt ist als zum Beispiel in der Karibik. Die permanente Wirtschaftskrise in Argentinien und den kürzlichen politischen Wechsel mit Abwertung des argentinischen Pesos um 50 % sind auf den ersten Blick hier kaum zu spüren.
Einige Straßen und Plätze war ich ja schon beim letzten Mal abgelaufen. Ich versuche immer, Orte kennenzulernen, an denen ich noch nicht war und will möglichst alles zu Fuß erreichen. Jedes Mal entdecke ich Neues, Landschaften, Natur, Bauwerke, Kuriositäten, Perspektiven, Menschen und Begebenheiten. „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen“, sagte schon Johann Wolfgang von Goethe. Erst auf dem Jakobsweg habe ich so richtig erfahren, wie wahr das ist.
Am Abend des 6. Dezember ging es los. Die neuen Gäste hatten ihre Suiten bezogen und die Sicherheitsbelehrungen erhalten. Die Fahrten durch den Beagle Kanal und die Drake Passage waren diesmal sehr ruhig. See-Tage nutzen wir für Trainings- und Sicherheitsübungen. Am 9. Dezember waren wir am Ziel und der erste Discovery-Tag war gleich ein Volltreffer:
Kaiserwetter trifft auf Kaiserpinguine! Unser Discovery-Team erforschte vorab zusammen mit dem Kapitän mögliche Stellen, an denen wir die immer selteneren Kaiserpinguine sehen könnten. Wir steuerten Snow Island im Weddellmeer an. Es war eine einmalige Gelegenheit, zumal viele regelmäßig in die Antarktis Reisende jahrelang keine Kaiserpinguine gesehen hatten. Diesmal winkte uns ein Riesenglück. Mit dem Hubschrauber flogen wir auf das Eis, das der antarktische Sommer in wenigen Wochen in Wasser verwandeln wird und landeten etwa einen Kilometer vor mehreren Kaiserpinguin-Kolonien. Vor dort ging es zu Fuß über das Eis, das teilweise schon recht matschig, aber dennoch stabil war.
Das Discovery-Team hatte mit Fähnchen klare Grenzen gezogen, wie weit man sich den Kolonien nähern durfte. 5 Meter Abstand ist das Minimum. Leider hielten sich die Kaiserpinguine nicht an diese Regel. Die menschlichen Besucher blieben zwar in respektvollem Abstand stehen, aber nicht die neugierigen Pinguine, die immer näher rückten. Es bliebt uns nichts weiter übrig, als anweisungsgemäß zurückzuweichen. Aber das animierte die Pinguine und ihre Küken sogar noch mehr. Es war ein Hin-und-her Spiel.
Die nächsten Tage waren von schönem Wetter und klarer Sicht geprägt.
Am 11. Dezember erreichten wir A23a, den größten Eisberg der Welt, der sich seit seinem Abbruch vom Filchner-Ronne-Schelfeis im Jahr 1986 jahrelang kaum bewegte und inzwischen in Richtung Südatlantik treibt. 4000 km², eine Fläche dreimal so groß wie New York City, 400 Meter dick, davon 300 Meter unter Wasser. Aus der Entfernung sieht er aus wie eine dünne Schicht auf dem Wasser. Mit 100 Metern ist er jedoch höher als alle anderen Eisberge.
Zwei Tage später erreichten wir Deception Island, die Caldera eines aktiven Vulkans mit einem schmalen Eingang von etwa 500 Meter Breite und reicher Geschichte (mehr zu Deception Island). Die letzte Eruption im Jahre 1970 hatte deutliche Spuren der Zerstörung hinterlassen. Aber das Leben ist zurück, zumal die Wassertemperatur in der Caldera wegen des begrenzten Austauschs durch die enge Öffnung etwa 10 Grad über der Temperatur des umgebenden Meeres liegt. Manchmal dampft der schwarze Sandstrand gespenstisch. Man braucht nur mit der Hand ein Loch von 10 bis 20 cm in den Sand am Strand zu graben und es wird richtig warm. Die besondere Atmosphäre dieser Insel durfte ich nun schon zum zweiten Mal genießen und ich machte mich gleich zu Anfang auf zu Neptune’s Window, ein Ort, an dem man aufpassen muss, von den permanent starken Winden nicht in den Abgrund geblasen zu werden.
Die ersten Wale konnte ich am 16. Dezember mit der Kamera einfangen. Wir waren zwar schon vorher auf viele gestoßen, aber ich war nicht schnell genug zu Stelle, zumal ich ja auch im Medical Center zu tun habe. Die Rückfahrt nach Ushuaia nutzen wir wieder für Training unseres Stretcher-Teams.
Danach war unser Schiff für die Weihnachtskreuzfahrt komplett von einer Reisegruppe aus Taiwan gechartert worden und wir bemühten uns, so weit wie möglich auf chinesische Bedürfnisse einzugehen. Ein besonderes Highlight war ein Treffen mit unserem Schwesterschiff Scenic Eclipse, auf dem ich selbst zuletzt einige Monate verbracht hatte. Der letzte Tag bot eine Landung auf dem antarktischen Kontinent. Auch wenn der Südpol noch mehr als 2800 km Luftlinie entfernt war, könnte man ihn theoretisch von dort aus zu Fuß erreichen. Jeder wollte mindestens einmal mit der Flagge des antarktischen Kontinents fotografiert werden.
Die „Heimfahrt“ nach Ushuaia war diesmal etwas rauer. Dafür wurden wir bei der anschließenden Silvester-Kreuzfahrt von Wetter verwöhnt.
Das Wetter an Silvester war der Knaller. Stahlblauer Himmel unter gleißender Sonne. Ohne Sonnenbrille mit maximaler Tönung konnte man gar nicht ins Freie. Ansonsten beginnen die Augen sofort schmerzhaft zu tränen. Die UV-Strahlung ist bei solch einem klaren Wetter extrem auf diesem Kontinent, der nur über eine dünne Ozonschicht verfügt. Selbst unter grau bedecktem Himmel erleidet man ohne entsprechenden Hautschutz spätestes nach einer Stunde draußen einen Sonnenbrand. Allein das Licht und die intensiven Farben vermitteln etwas Unwirkliches. Eigentlich kann man die Stimmung, das Erlebnis, die Eindrücke fotografisch nicht hinreichend einfangen. Trotzdem versuche ich es immer wieder. Nirgendwo auf der Welt habe einen größeren Unterschied zwischen den mitgebrachten Bildern, Videos und dem tatsächlichen Erleben bemerkt als in der Antarktis. Die Magie lässt sich nur schemenhaft und in Facetten einfangen. Kein Foto und kein Film kann das auch nur annähernd vermitteln, was man vor Ort mit allen Sinnen erlebt.
Die kommenden Tage waren durch Begegnungen mit Walen, Pinguinen und Robben bereichert. Am 15. Januar haben wir die Pourquoi-Pas-Insel besucht, bei der mich die Mitternachtssonne nicht losgelassen hatte. Auch der nächste Tag zeichnete sich durch atemberaubendes Kaiserwetter aus. Buckelwale näherten sich neugierig den Zodiak-Booten und Kajak-Fahrern. Außerdem wurden wir Zeugen eines gewaltigen Gletscher-Kalbens, als wir an Land waren und die Vögel beobachteten. Die Gletscherkante brach in etwa einem Kilometer Entfernung auf eine Länge von ca. 500 Metern ab und verursachte erhebliche Wellen. Das war allerdings nicht das Problem. Die fallenden Eisberge bewegten sich im Wasser heftig, brachen in viele kleine Teile auseinander und verursachten ein riesiges Feld von Eistrümmern, das sich schnell über die gesamte Bucht ausbreitetet. Nur mit Mühe konnten wir die verbliebenden Gäste und das mitgebrachte Material wieder in Sicherheit bringen und in die Zodiak-Boote laden. Etwa 15 Sekunden bevor die herannahenden Eistrümmer den Weg versperrten, schaffte es das letzte Boot, das Ufer zu verlassen und sich noch einen Weg zurück zum Mutterschiff zu bahnen.
Am Nachmittag bekamen wir Besuch von Wissenschaftlern der britischen Station auf Port Lockroy. Nach den Vorträgen brachten sie auch einige Waren zum Verkauf mit, wodurch der UK Antarctic Heritage Trust finanziell unterstützt wird. Sogar Postkarten, die mit offiziellen Briefmarken und einem Port Lockroy UK Antarctic Heritage Trust Stempel mit der Royal Mail verschickt werden konnten, wurden mit auf unser Schiff gebracht. Das ließ ich mir natürlich nicht entgehen. Das Wetter verschlechterte sich zusehends, sodass die nicht weit entfernte Bark Europa nur schemenhaft erkennbar war und irgendwie an die Silent Mary, dem Galeonen Geisterschiff der Spanischen Armada aus dem Film Fluch der Karibik erinnerte.
Nachdem wir wieder alle glücklich versammelt waren, genossen wir noch die Einfahrt in den Lemaire Kanal.
Am 18. Januar wurde es trüb, mit Schnee und Regen. Aber trotzdem erkunden wir noch Palaver Point und Charlotte Bay. Kurz bevor wir die Rückfahrt nach Ushuaia antreten wollten, besuchten und noch eine Buckelwal-Familie, die für ihr Dinner immer näher an Schiff kamen. So mussten wir warten, bis alle Buckelwale für das Dessert ein Stück weiterzogen. Die Drake Passage zeigte sich auf der Rückfahrt von ihrer rauen Seite bei 140 km/h Wind und Wellengang bis 7 Meter.
Damit ging diese lange Reise vom spanischen Galicien bis zur Antarktis nach fast vier Monaten zu Ende. Von Ushuaia flog ich zurück nach Buenos Aires ins Hotel. Am nächsten Tag schlossen sich vier weitere Flüge an: Madrid, Lissabon, Ponta Delgada und schließlich Santa Maria. Nach zweieinhalb Reisetagen war ich wieder zu Hause auf meiner Insel.