Santiago de Compostela – Ziel erreicht – trotz Fehldiagnose und Komplikation – und weiter geht‘s ans Ende der Welt

Mein rechtes Bein hat sich in den letzten zwei Tagen wieder verschlechtert, ganz entgegen meiner Erwartung. Von Bluterguss nichts zu sehen, der Unterschenkel ist richtig dick geworden und der Schmerz wird stärker, vor allem nach Laufpausen. Morgens nach dem Aufstehen brauche ich fast eine Stunde, um einigermaßen flüssig laufen zu können. Ich zerbreche mir den Kopf, was das Problem sein könnte und stelle meine Arbeitsdiagnose „Muskelfaserriss“ in Zweifel.

Also zurück zum Anfang: Was ist, wenn überhaupt, genau passiert, was waren die ersten Symptome und Befunde? Differentialdiagnostisch hatte ich ja auch schon eine Thrombose und eine Baker-Zyste in Erwägung gezogen, hatte mich dann aber wohl aus psychologischen Gründen für die harmloseste Variante Muskelfaserriss entschieden, zumal dies meinen Jakobsweg kaum beeinträchtigt. Je mehr ich nachgrübele, desto mehr meine ich, ganz am Anfang das Gefühl verspürt zu haben, als ob mir eine Flüssigkeit die Wade herunterläuft. Außerdem, war das, was ich erst für einen beginnenden Bluterguss gehalten hatte, streng genommen nicht mehr als eine großflächige, leichte Rötung über der rechten Wade, die relativ scharf begrenzt war. Da nur die Wade betroffen ist, Fuß und Sprunggelenk nicht geschwollen sind, also der venöse und der Lymphabfluss funktionieren, schließe ich eine Thrombose aus. Das wahrscheinlichste Szenario ist daher eine geplatzte Baker-Zyste, von der ich vorher nichts wusste. Diese Alternative ist eher unangenehm, da sie zu Komplikationen wie einem Kompartmentsyndrom führen könnte, das auch mal den Verlust des Unterschenkels zur Folge haben kann. Eine Baker-Zyste ist mit Ultraschall, sehr viel besser aber mit einem MRT gut diagnostizierbar, nicht mehr jedoch, wenn sie geplatzt ist. Höchstens bei einer operativen Eröffnung könne man vielleicht die Reste der geplatzten Zyste sehen. Das sind alles Überlegungen, die mir nicht gefallen, zumal ich mich 20 km vor dem Ziel befinde und qualifizierte medizinische Hilfe ohnehin nur in der Uniklinik von Santiago zu erwarten ist. Andererseits, könnte man ja auch den Versuch wagen, die Sache weiter konservativ funktionell zu behandeln, also Bewegung und leichte Belastung, Hochlagerung, Kühlung. Ich sage zu mir selbst „Ultreia“ und entscheide mich als unfallchirurgisch-orthopädisch vorbelasteter Chirurg und Notarzt für das Risiko im Selbstversuch und werde die letzten 20 km im Schongang hinkend und humpelnd, langsam und vorsichtig auf dem Pfad des heiligen Jacobus wandeln.

Das geht dann auch ganz gut, zumal die Beschwerden beim Laufen abnehmen und der Druck im Unterschenkel durch die Muskeltätigkeit spürbar abnimmt. Nur in den Pausen muss ich das Bein sofort hochlagern. Liegen und laufen ist gut, sitzen und stehen ist schlecht! So wandere ich durch Märchenwälder, lasse mich bei meinem gemächlichen Gang von vielen Pilgern überholen, vorbei an galicischen Grabstätten und Kirchen. Kurz vor Santiago treffe ich auf Pilger-Bettenburgen, die derzeit leer stehen. Im Sommer muss hier die Hölle los sein. Am Stadtrand gibt es mehrere solcher Anlagen für zigtausend Pilger. Eine davon muss ich fotografisch dokumentieren. Es stürmt bereits den ganzen Tag mit heftigen Böen. Als ich endlich die Stadt erreiche, fängt es noch einmal zum krönenden Finale richtig heftig an zu regnen – und es hört nicht mehr auf! Ich flüchte mich in die Kathedrale, die derzeit innen und außen eine Riesenbaustelle ist. Ich wundere mich, dass überhaupt Menschen hereingelassen werden. Aber der Betrieb als Bischofssitz und weltweit eines der wichtigsten Pilgerziele muss wohl weitergehen. Nach der Sicherheitskontrolle, wobei nur mein Rucksack durchsucht wird, werde ich hineingelassen. Ein paar Fotos in der Basilika darf ich schießen, aus Pietätsgründen natürlich jedoch nicht in der Krypta, in der die Reliquien aufbewahrt werden. Danach geht es im strömenden Regen und Sturmböen, die so machen Regenschirm umklappen oder wegfliegen lassen zum Pilgerbüro, das bei dem Unwetter nicht leicht zu finden ist. Mit einem „Heureka“ stehe ich vor dem Eingang. Der Security Mann mustert mich streng und führt mich zum Warteschlangenmanagementsystem, wo ich mir eine Nummer ziehen und mich in den Gang vor der Schalterhalle des Pilgerbüros aufstellen darf. Im Sommer stehen hier über Tausend Pilger Schlange, sagt der Security-Mann. Heute, bei dem November-Unwetter sind gerade einmal drei Leute vor mir. Alles hat seine Vor- und Nachteile – denke ich mir – und schon wird meine Nummer aufgerufen. Ich komme mir vor wie ein Antragsteller in einer Behörde. Meine Unterlagen werden geprüft. Drei nahezu volle Pilgerausweise voller Stempel und Daten lege ich vor. Dann kommt ein Interview, in dem ich gefragt werde, wie der Weg war und wann ich wo war. Schließlich muss ich noch ein Formular mit meinen Daten ausfüllen und ein paar Fragen schriftlich beantworten.

Dann hellt sich die Mine des Schalterbeamten auf und mir wird gratuliert, dass ich nach Erfüllen der Kriterien mich nun als zertifizierter Jakobspilger bezeichnen darf und als Nachweise hierfür die in Latein verfasste Compostela-Urkunde auf meinen Namen ausgestellt wird. Zusätzlich erhalte ich noch das Certificado de Distancia, weil ich über die geforderten 100 km hinaus einen weiten Weg gegangen bin. Nun heißt es aber schleunigst ins Hotel, duschen und Bein hochlagern. Ich bin nass wie eine Katze, die in den Teich gefallen ist. Wenn ich mich wieder erholt habe, werde ich nach zwei Tagen in Richtung Fisterra auf dem Kap Finisterre aufbrechen, das man früher für das westliche Ende der Welt hielt (daher der Name von lat. finis terrae).

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